CAUTIOUS

Behutsam will ich Dir begegnen

Ich kenne Dich nun viele Jahre.
Halt, nein, das stimmt nicht.
Wirklich oder genauer kenne ich Dich nicht.

Ich bin Dir oft begegnet,
habe Dich gesehen und begrüßt,
zuweilen auch gefragt, wie es Dir geht.
Ich kenne Deinen Namen und weiß,
in welcher Straße Du wohnst
und dass Du wieder Arbeit hast.
Aber wirklich kennen gelernt
habe ich Dich nicht.

Du bist so stumm und ausdruckslos.

Jedes Mal, wenn ich Dich sehe,
überlege ich und frage mich:
Wer mag Dich so verwundet haben,
dass jedes Lachen Dir verging?
Kein Lächeln huscht Dir
unversehens ins Gesicht,
keinen Laut der Freude
hörte jemals ich von Dir.

Wer zerbrach die Kraft in Dir,
Dich aufzubäumen, Dich zu widersetzen?
Keinen Aufschrei vernahm ich je
aus Deinem Mund oder dem Herzen,
spürte keinen Willen mehr in Dir,
Dein Recht zu fordern oder
für Dich einzustehen.

Du sagst kein Ja und
sprichst kein Nein,
unentschlossen und stockend
gehst Du Deinen Weg.

Wo blieb Dein Wunsch,
etwas zu gelten,
jemand zu sein?
Jeder Drang in Dir scheint gestorben.
Du fällst nie auf,
stehst nie im Rampenlicht.
Man sieht Dich nicht,
hört niemals Deinen Namen.

Auch entdecke ich keine Sehnsucht mehr
in Deinem Herzen
nach irgendeiner Wende, die Dir Raum gibt,
um Deine Lebensträume zu verwirklichen.
Du ringst nicht, kämpfst nicht,
alles scheint so tot in Dir.

Wer hat Dein Inneres so tief verletzt,
dass Du Dein Herz versteckst
und ihm verbietest,
sich zu regen und
irgendein Gefühl zu zeigen?

Wer raubte Dir die Hoffnung,
dass sich jedes Blatt im Leben wenden
und sich selbst Deine Nacht erhellen kann,
wie dunkel sie auch ist?

Viel Unrecht und Gewalt
muss Dir geschehen sein,
das spüre ich,
wenn Du Dein Inneres
so sehr verbirgst
und nicht mehr wagst,
es noch einmal zu zeigen.

Wie oft mag Dein Vertrauen in die Menschen
zum Nachteil und Verhängnis
Dir geworden sein?

Behutsam will ich Dir begegnen,
aufrichtig und mit Geduld,
bedacht und aufmerksam.

Ich werde warten,
jedes Bedrängen meiden
und Dir gewähren Zeit um Zeit,
bis Deine Wunden heilen
und Deine Enttäuschung neuer Zuversicht weicht.

Vielleicht kommt einmal der Tag,
wo Du Dich traust, Dich mir zu öffnen,
damit ich erfahre, wer Du bist,
um dann mit Dir zu lachen und zu weinen,
zu bangen und zu hoffen.

(Klemens Nodewald)